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artifex 02/2024

NAVARRA: DIE WEGE DER TRANSHUMANZ

SCHAFE, GEIER, BOMBEN: VON DEN GIPFELN DER PYRENÄEN HINAB IN DIE MONDWÜSTE DER BARDENAS REALES IM SÜDEN DER SPANISCHEN REGION NAVARRA.

TEXT: MICHAEL SOLTYS

Es ist ein gefährlicher Weg, den die kleine Schafherde von Koldo Vicente Eseberri an diesem Tag über die Gipfel der Pyrenäen zurücklegt. Die ungebändigte Energie zweier Hirtenhunde ist notwendig, um die Tiere den steilen Abhang hinabzuführen. Sua, ein weißer Pyrenäen-Berghund, übersetzt heißt das Feuer, gibt den Weg vor und drängt die vorderen Tiere abwärts. Boira, Nebel, der braune baskische Hirtenhund, rennt auf einen kurzen Zuruf von Eseberri den Abhang hinauf und zwingt auch die letzten Nachzügler, die steilen Felsen zu überwinden. Dann ist erst einmal Pause, für die Tiere und ihren drahtigen jungen Hirten. Hier oben, knapp unterhalb des Berges Orhi, dem ersten Pyrenäen-Zweitausender östlich des Atlantiks, erhalten die Schafe für ein paar Stunden Gelegenheit, die kargen Wiesen abzugrasen. Danach geht es weiter abwärts, ins Winterquartier.

Foto: © Michael SoltysFoto: © Michael Soltys

Transhumanz nennt sich diese Form der offenen Schafhaltung auf Wiesen und Feldern, sommers in der Höhe, winters in den Ebenen der Region Navarra. Doch sie ist selten geworden. Es gibt nur noch vier Hirten in der Region, die ihre Tiere die ganze Strecke hinabtreiben. Das erzählt Gustavo Goiena bei einem Rundgang mit Schäfer Eseberri unterhalb des Gipfels. Goiena führt Besucher im Auftrag des nahen Naturschutzzentrums durch den Irati-Wald, einen Buchen- und Fichtenwald auf den Pyrenäen-Höhen, dessen 17.000 Hektar Fläche abgelegen und einsam sind. Sechs Tage dauerte es, bis die Schäfer früher ihre Winterweiden erreicht hatten, rund 120 Kilometer mussten sie mit ihren Tieren zurücklegen, erzählt Goiena. Über Jahrhunderte haben sich die Wege von den Weiden in der Höhe hinab ausgebildet, ein regelrechtes Netzwerk sei damals entstanden. Längst nicht mehr intensiv benutzt, werden sie nach und nach als Wanderwege und Trails für Mountainbikes ausgewiesen.

Koldo Vicente Eseberri mit seiner Schafherde und Hirtenhund Boira Foto: © Michael SoltysKoldo Vicente Eseberri mit seiner Schafherde und Hirtenhund Boira Foto: © Michael Soltys

Für Eseberri und seine Herde ist das Ziel aber schon nach ein paar Stunden erreicht. Sein Weg und der seiner Schafe endet kurz vor dem Bergdorf Ochagavia, ein paar Kilometer unterhalb des Gipfels. In einem neu erbauten Stall wird er seine Schafe über den Winter einpferchen, die Tiere, die über den Sommer trächtig geworden sind, von der Herde trennen, um ab Februar, nachdem sie geworfen haben, ihre Milch zu Pyrenäen-Käse zu verarbeiten. In den Nebengebäuden des Stalls hat sich Eseberri eine Melkstation und eine Käserei eingerichtet, mit der er sein Auskommen bestreiten möchte. Die kleinen festen Laibe, mal purer Schafskäse, mal eine Mischung aus Schaf- und Ziegenkäse, verkauft er bisher noch auf regionalen Märkten. Doch schon bald möchte er sie auch über den Handel vertreiben. Das zumindest ist sein Plan. In diesem Jahr hofft er um die 3000 Stück an den Mann bringen zu können.

Stefania Guinea führt Gäste durch die Bardenas Reales Foto: © Michael SoltysStefania Guinea führt Gäste durch die Bardenas Reales Foto: © Michael Soltys

In einer Nebenstraße des Dorfes, inmitten hoher Steinhäuser, die alle statt der Hausnummer ihren eigenen Namen haben, bereitet sich Maria darauf vor, ein paar Gänge zu erledigen. Fünf Töchter hat die heute 88-Jährige in einer Zeit großgezogen, als die Transhumanz noch zum Alltag der Menschen gehörte. Über Wochen und Monate, von November bis Ende März, waren die Männer im Winter nicht zu Hause. Sie hüteten ihre Tiere in der Ebene und produzierten dort den Käse. „Die ganze Verantwortung für das Haus, für den Haushalt, für die Kinder, die lag bei mir“, erzählt Maria, Erfahrungen, die sie auch an ihre 13 Enkel und vier Urenkel weitergibt. Mit der Transhumanz haben sich auch die Orte verändert. Die jungen Leute suchen ihr Glück in der Stadt, in den Industriebetrieben rund um das nahe Pamplona, wo es mehr zu verdienen gibt. Gerade noch einmal 300 Menschen, viele von ihnen so wie Maria im fortgeschrittenen Alter, leben noch in dem Bergdorf, ist im Touristenbüro zu erfahren.

Zu Marias Zeiten waren die Bardenas Reales das Ziel der Schäfer aus Ochogavia, eine unwirklich anmutende wüstenähnliche Mondlandschaft im Süden Navarras. Hier, etwa 120 Kilometer südlich der Pyrenäen-Weiden, fanden die Tiere im Winter genügend Nahrung, erläutert Stefania Guinea. Sie führt eine Outdoor-Agentur, die Besucher mit den Attraktionen der Bardenas bekannt macht. Bei der Fahrt über die Schotterstrecken durch das fast 500 Quadratkilometer große Naturschutzgebiet begegnet man auch heute noch den frei laufenden Schafherden. Doch traditionelle Hirten wie Eseberri sucht man vergebens. Mit ihren Allrad-Fahrzeugen kommen die Besitzer nachts heraus, um die Tiere einzuzäunen und am anderen Morgen wieder freizulassen, sagt Stefania. Die Bewachung werde Lohnkräften überlassen.

Foto: © Michael SoltysFoto: © Michael Soltys

Vom Appetit der Schafe profitieren vor allem die Bauern, die in Teilen des Naturschutzgebietes Weizen, Hafer und Reis anbauen. Ein Kloster und 19 angrenzende Gemeinden haben seit dem 9. Jahrhundert das Recht, Teile der Bardenas Reales landwirtschaftlich zu nutzen. Wer dort geboren ist oder für mindestens zehn Jahre dort wohnt, kann eine Konzession für die Nutzung erhalten – ganz so wie in historischen Zeiten, als die Bardenas sich im Eigentum des Königs von Navarra befanden. Nach einem Jahr des Getreideanbaus wird das Land brach gelassen. „Und die Schafe sorgen dafür, dass es in dieser Zeit nicht überwuchert“, erläutert Stefania.

Foto: © Michael SoltysFoto: © Michael Soltys

Nicht weit von ihr kreisen einige Geier an den Hängen der braun-gelben Felsen entlang, die über Jahrhunderte durch Erosion entstanden sind. Ein Vogelschutzgebiet, das zu bestimmten Zeiten nicht betreten werden darf, ist Teil des Naturparks. Bei der letzten Zählung im Jahr 2019 wurden 170 Paare von Schmutzgeiern und Gänsegeiern gezählt. Mitte September sind viele Vögel zu ihren Winterquartieren aufgebrochen, ihre Rückkehr wird für Anfang Februar erwartet.

Hirtenhund Sua geht der Schafherde von Koldo Vicente Eseberri voran Foto: © Michael SoltysHirtenhund Sua geht der Schafherde von Koldo Vicente Eseberri voran Foto: © Michael Soltys

Über Jahrhunderte ist die Wüstenlandschaft, einst ein Binnenmeer, durch Erosion entstanden. Bizzarre Felsformationen wie die Castelditierra sind entstanden, ein spitz zulaufender Felskegel, der von Steinen gekrönt ist. Schilder warnen davor, dass der Boden aus Ton, Gips und Kalk brüchig ist. Der plötzliche Absturz in einer der Barrancos droht, ein steil abfallendes Flusstal. Solche Brüche in der Landschaft, einige nur wenige Meter tief und breit, finden sich an vielen Plätzen der Bardenas. Sie sind ebenso von Wasser und Wind geformt wie die Felswände mit ihren wellenartigen Strukturen. Die fremdartige, karge Erscheinung der Wüste hat schon einige Filmteams angelockt. Teile von „Game of Thrones“ wurden hier gedreht, auch für den James-Bond-Film „Die Welt ist nicht genug“ dienten die Felsen als Kulisse.

Koldo Vicente Eseberri mit seiner Schafherde und Hirtenhund Boira Foto: © Michael SoltysKoldo Vicente Eseberri mit seiner Schafherde und Hirtenhund Boira Foto: © Michael Soltys

Die Bomben aber, die nur wenige Kilometer auf das Gelände fallen, sind real. Denn nach wie vor probt die spanische Luftwaffe inmitten des Naturschutzgebietes, wie man Bomben gezielt abwirft. Über Jahre und Jahrzehnte übten auch die Jet-Piloten aus Nato-Staaten die Zielwürfe in dem Bombodrom, das heute selbst Teil des Parks ist. So kurios es klingt: Das Militär sichert die Finanzierung des Nationalparks, versichert Stefania. Die Bomben werden seit 1951 abgeworfen, der Nationalpark selbst wurde aber erst 1998 gegründet. Und im Jahr 2000 wurden die Bardenas zum Biosphärengebiet erklärt. Etwa seit dieser Zeit zahlt das Militär eine Nutzungsentschädigung, die für den Erhalt der Natur verwendet wird.

Koldo Vicente Eseberri in seiner Käserei Foto: © Michael SoltysKoldo Vicente Eseberri in seiner Käserei Foto: © Michael Soltys

INFO
Navarra ist eine Region im Norden Spaniens nahe der Grenze zu Frankreich. Zentrum ist Pamplona, weltweit bekannt für das Fest San Fermin und den Stierlauf Mitte Juli. Auf dem Jakobsweg von Frankreich Richtung Santiago de Compostela ist Pamplona die erste Station südlich der Pyrenäen. Die wohlhabende Region mit etwa 500.000 Einwohnern, davon rund die Hälfte in Pamplona, lebt vom Anbau von Gemüse und Wein rund um die Kleinstadt Olite, vor allem aber von der Automobil- und Pharma-Industrie. Aktuell ist die Region von deutschen Flughäfen aus nur über den Flughafen Bilbao zu erreichen. Von dort sind es etwa zwei Stunden mit dem Mietauto bis Pamplona. Verwaltung und Touristenorganisationen sind in Verhandlungen mit deutschen Fluggesellschaften über Direktflüge nach Pamplona.


artifex 02/2024: Reisen - Seite 50